Unser Umgang mit Musik im Kontext des Nationalsozialismus
Viele deutsche Musiker, die in den 30er und 40er Jahren Musik komponiert haben, waren Nazis oder Mitläufer des NS-Regimes1. Das gilt auch und besonders für die evangelische Kirchenmusik, deren bedeutendster Vertreter Hugo Distler (1908-1942) war. Wir sind ein Chor mit antifaschistischer Grundhaltung, daher sortieren wir Komponisten aus unserem Programm aus, wenn uns bekannt wird, dass sie Nazis waren und auch in der Nachkriegszeit keine Reue über ihre Verstrickungen im NS-Regime erkennen ließen. Dabei achten wir auch darauf, wann und in welchem Kontext die Musik entstanden ist. Bei Hugo Distler haben wir lange diskutiert, ob wir einen Satz von ihm aus dem Jahr 1932 singen wollen oder nicht. Am Ende haben wir uns mehrheitlich dafür entschieden. Wir haben aber das Bedürfnis, unsere Überlegungen dazu öffentlich zu machen, um nicht zu denen zu gehören, die die NS-Vergangenheit Distlers einfach unter den Tisch fallen lassen.
Denn die Einlassungen Distlers mit dem NS-Regime waren gravierend:
- Hugo Distler war Mitglied der NSDAP (Eintrittsdatum 01.05.1933)
- Er hat während der Nazizeit eine steile berufliche Karriere absolviert, vom Organisten in Lübeck zum Professor an der Berliner Staatlichen Hochschule für Musik und Leiter des Berliner Domchors.
- Er hatte Posten in der Reichsmusikkammer inne, die unter anderem mit der „Arisierung“ der deutschen Musik betraut war. Eventuell sogar bis hinauf zum Fachschaftsleiter.2
- Hugo Distler hat vereinzelt nationalsozialistisches Gedankengut publiziert. In einer besonders abstoßenden Passage eines Artikels setzt er sich für „Rassenpflege“, „gesunde Eugenik“ und „Ausmerzung alles volksfremden und volksfeindlichen Schrifttums“ ein.3
- Distlers Musik wurde vom NS-Regime geschätzt. In der gleichgeschalteten Presse wurden seine Werke überwiegend positiv besprochen. Als Auszeichnung für sein musikalisches Schaffen überwies ihm das Propaganda-Ministerium noch 1942 eine Prämie von 2.000 Reichsmark.4
- Er hat Sätze für kriegsverherrlichende Lieder für die Hitlerjugend geschrieben. Textprobe aus dem Lied „Morgen marschieren wir (in Feindesland)“: „Bluten und Sterben, gern, wohlan es sei / Wenn nur das Vaterland, wenn Deutschland frei“.5
- Distler hat nationalsozialistische Texte vertont, zum Beispiel das Singspiel „Ewiges Deutschland“ mit Texten des NS-Dichters Wolfram Brockmeier oder das Pro-Anschluss-Lied „Deutschland und Deutsch-Österreich“. Textprobe: „Brüder in dem Bruderland, hebt das Sonnenzeichen“ (Sonnenzeichen = Hakenkreuz).6
Uns ist schon klar, dass es viele persönliche Gründe gegeben haben mag, warum Distler die Entscheidungen getroffen hat, so zu handeln: Gruppendruck, Existenzangst etc. Aber, mit Forrest Gump, finden wir: Dumm ist, wer Dummes tut. Und Nazi ist, wer die nationalsozialistische Ideologie aktiv verbreitet. Gemäß dieser Definition war Hugo Distler ein Nazi.
Aber ein „Herrenmensch“ im Sinne der NS-Ideologie war Hugo Distler eher nicht, sondern eine vielschichtige Person, ein gläubiger Christ und feinfühliger Musiker, ein getriebener, leidender, von Selbstzweifeln zermürbter, dünnhäutiger, stark vom Urteil anderer abhängiger Künstler. Er war depressiv und hat 1942 den Freitod gewählt. Deshalb und aufgrund einiger Aussagen Distlers, die sich als kritisch gegenüber dem NS-Staat lesen lassen, wird Hugo Distler von manchen bis heute als Opfer des Nationalsozialismus wahrgenommen. Diese Einordnung erscheint uns angesichts der oben aufgeführten Tatsachen nicht glaubhaft.
Wir haben darüber abgestimmt, ob wir Hugo Distler weiterhin aufführen wollen. Eine Mehrheit war dafür. Ein Hauptgrund: Anhand von Hugo Distler über NS-Bezüge zu reden und uns und andere weiter dafür zu sensibilisieren ist vielleicht besser, als ihn einfach nur wegzulassen. Ein Drittel von uns hat gegen eine Aufführung gestimmt. Vier Chormitglieder ziehen es vor, bei Distler-Songs im Konzert nicht mitzusingen.
Haben wir damit eine gute Entscheidung getroffen? Wir wissen es selbst nicht so genau und werden auch in Zukunft überlegen, ob überhaupt und was genau wir von Distler singen wollen. Uns würde es auch interessieren, wie andere Chöre mit diesem Thema umgehen.
Der Richardchor Neukölln im Dezember 2023
- Wir nutzen die männliche Form, weil wir bei unseren Recherchen bisher auf keine Frau gestoßen sind, die das NS-System als Komponistin unterstützt hätte. ↩︎
- Bettina Schlüter: „Innere Emigration“. Zum Lebensentwurf Hugo Distlers. In: „Hugo Distler im Dritten Reich“, Hrsg.: Stefan Hanheide, Universitätsverlag Rasch, 1997, S. 42. ↩︎
- Hugo Distler: „Von der Mission der deutschen evangelischen Kirchenmusik und Lübecks Verpflichtung als Kirchenmusikstadt im Besonderen“, in: Lübecker Blätter, JG.75, Nr. 26 vom 25.Juni 1933. Zitiert nach Hauke Osada: „Hugo Distler im Spiegel der Lübecker Lokalpresse“, in: „Hugo Distler im Dritten Reich“, a.a.O., S. 156. ↩︎
- Stefan Hanheide: „Musik zwischen Gleichschaltung und Säuberung. Zur Situation der Komponisten in Deutschland 1933-1945“. In: „Hugo Distler im Dritten Reich“, a.a.O., S.22. ↩︎
- Philipp Schmidt-Rhaesa: „Neue Musik für einen neuen Staat. Zu Distlers Vertonungen politischer Texte“, in: „Hugo Distler im Dritten Reich“, a.a.O., S. 65. ↩︎
- Abschnitt über Hugo Distler in: Fred K. Prieberg: „Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945“, Kiel, 2004. ↩︎